Fast acht Jahre ist es her, dass die Vergabe der WM 2018 nach Russland verkündet wurde. Viele der Männer, die diese Entscheidung getroffen haben, sind inzwischen zurückgetreten, suspendiert oder verhaftet worden. Darunter auch Joseph Blatter und Michel Platini. Sie könnten bei der WM dennoch auf Ehrenplätzen dabei sein, denn Wladimir Putin hat sie eingeladen – als zwei alte Freunde. Putin ist weiterhin im Amt, wenn auch heute in einem anderen. 2010 war er zum zweiten Mal russischer Ministerpräsident, jetzt ist er zum dritten Mal Präsident.
Der Verdacht auf Korruption bei der Vergabe des Turniers, der Mangel an Demokratie im Ausrichterland – das sind nur zwei Punkte von vielen, die sich gegen eine Weltmeisterschaft in Russland anführen lassen. Gut möglich, dass die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine für das Turnier keine Rolle spielen werden. Die Truppen im Donbass stellen zumindest für die WM-Gäste keine Einschränkung dar. Anders sieht es da schon aus, wenn du als schwuler Fan mit deinem Freund Hand in Hand über den Roten Platz spazierst. Oder einen Pin in Regenbogenfarben an deiner Jacke trägst. Wenn du dich für die Situation der Menschenrechte oder für Rassismus in Russland interessierst und in Sankt Petersburg eine Veranstaltung dazu besuchen willst. Oder genauer wissen möchtest, von wem und um welchen Preis die neuen Stadien gebaut worden sind. Dann stoßen auch die WM-Touristen sehr schnell an die Grenzen dessen, was in Russland in der Öffentlichkeit sag- und machbar ist. Zugleich geben sie im Stadion und den Fanzonen ihr Gesicht für Jubelbilder her und werden so womöglich zu Komplizen des Systems.
Die Idee, dass die Vergabe von großen Sportturnieren an autoritär regierte Staaten helfen kann, die Situation in diesen Ländern zu verändern, klingt gut. Sie hat sich aber schon bei den Olympischen Spielen in Peking 2008 und Sotschi 2014 als Illusion entpuppt. Die mit diesen Ereignissen verbundenen wirtschaftlichen Interessen wiegen schwerer als politische Forderungen nach mehr Demokratie. Es gibt also gute Gründe, die WM zu boykottieren. Und es gibt 144 Millionen Gründe, das nicht zu tun: die Russinnen und Russen.
Wer die Möglichkeit, das Geld und die Zeit hat, sollte im kommenden Jahr nach Russland fahren. Denn jenseits aller kommerziellen Vermarktung und politischen Instrumentalisierung sind Weltmeisterschaften weiterhin Orte für Begegnungen von Menschen aus unterschiedlichsten Ländern, die die Liebe zum Fußball verbindet. Der Confed-Cup hat gezeigt, dass genau das auch in Russland funktioniert: Neuseeländische Fans erzählen, dass sie mit vielen Vorurteilen angereist waren, und schwärmten anschließend von der Gastfreundschaft in „Saint Pete“. Russen nehmen ihr Land plötzlich neu wahr, weil sie es durch die Augen der Besucher sehen, die zum ersten Mal dort sind. Die WM ist eine Chance, mehr darüber zu erfahren, wie es sich anfühlt, in Russland zu leben. Sie kann eine Gelegenheit sein, progressive Kräfte zu stärken, indem man zuhört, hinschaut und lernt. Indem man neue Kontakte knüpft, um der Bande der alten Freunde Blatter, Platini und Putin etwas entgegenzusetzen.